Topologie und Geometrie
Die topologische Forschungsaktivität in Heidelberg erstreckt sich über Mannigfaltigkeiten, d.h. lokal euklidische Räume, hinaus bis auf Räume, die singuläre Punkte enthalten können. Indem man äquisinguläre Punkte in Strata gruppiert, gelangt man zum dem Begriff des stratifizierten Raums. Wichtige Beispiele sind reelle oder komplexe algebraische Varietäten, simpliziale Komplexe, Orbiträume von Gruppenwirkungen, Kompaktifizierungen, sowie in der Physik auftretende Räume wie Orbifolds und Conifolds. Wir beschäftigen uns mit der Entwicklung, Berechnung, und Anwendung von Invarianten wie neuen Kohomologietheorien, stratifizierten Homotopieinvarianten, Bordismustheorien und zugehörigen Orientierungs- und charakteristischen Homologieklassen für stratifizierte singuläre Räume. Mathematische und physikalische Dualitätstheorien wie beispielsweise Poincaré-Dualität oder Mirror-Symmetrie spielen eine bedeutende Rolle. Im niedrigdimensionalen Bereich konfluieren Topologie, Geometrie und Physik in der Untersuchung von Knoteninvarianten und topologischen Quantenfeldtheorien wie der Chern-Simons-Theorie. Unterschiedliche Beschreibungen, Interpretationen und Anwendungen solcher Theorien ebnen den Weg für eine extensive Interaktion von Forschungsgebieten, die Topologie, algebraische Geometrie, Differentialgeometrie, geometrische und globale Analysis sowie mathematische Physik umfassen. Diese Interaktion wird insbesondere unter dem Dach des Heidelberger Exzellenzclusters STRUCTURES mit Nachdruck verfolgt.
Historische Perspektive
Die prestigeträchtige Tradition im Bereich Topologie des mathematischen Instituts der Universität Heidelberg wurde durch Herbert Seifert begründet und durch Albrecht Dold, Dieter Puppe und Matthias Kreck fortgesetzt. Den Namen Seifert verbindet man mit fundamentalen Konzepten wie Seifert-Faserräumen, Seifertflächen in der Knotentheorie und dem Satz von Seifert-van Kampen. Dolds Entdeckungen in der algebraischen Topologie, darunter das Dold-Thom Theorem, die Dold-Kan-Korrespondenz, Dold-Faserungen, Dold-Mannigfaltigkeiten und die allgemeine Theorie von Orientierungsklassen werden heute regelmäßig verwendet. Sein Fixpunktsatz fand Anwendungen in der Ökonomie. Das Werk Puppes prägte die moderne stabile Homotopietheorie, während Krecks Beiträge die Differentialtopologie von 4- und höherdimensionalen Mannigfaltigkeiten bis hin zu stratifizierten Räumen via seines Konzepts der Stratifolds überspannen.
Mannigfaltigkeiten
Mannigfaltigkeiten sind Räume, die lokal an jedem Punkt wie ein euklidischer Raum aussehen. Diese Uniformität hat immense Konsequenzen, darunter die homologische Symmetrie der Poincaré-Dualität. Mannigfaltigkeitsstrukturen auf gegebenen Poincaré-Dualitätsräumen beliebiger Dimension zu klassifizieren war mehrere Jahrzehnte lang ein Hauptaugenmerk der Topologie. Innerhalb des zu diesem Zweck entwickelten Gerüsts der topologischen Chirurgietheorie fand man zahlreiche mächtige Invarianten von Mannigfaltigkeiten. Dabei spielen charakteristische Kohomologieklassen, die man Vektorraumbündeln wie dem Tangentialbündel zuordnet, eine herausragende Rolle. Besonders interessante Klassen von Mannigfaltigkeiten erhält man durch die Beachtung zusätzlicher Strukturen, z.B. einer komplexen oder symplektischen Struktur. Weitere Einschränkungen der Strukturgruppe des Tangentialbündels führen zu Mannigfaltigkeiten, die in der theoretischen Physik Bedeutung erlangten, z.B. Calabi-Yau Mannigfaltigkeiten.
Singuläre und stratifizierte Räume
Viele Räume, die innerhalb der Mathematik und in ihren Anwendungsgebieten auftreten, sind jedoch nicht uniform und haben Singularitäten. Auch glatte Abbildungen zwischen glatten Mannigfaltigkeiten haben im Allgemeinen Singularitäten. Whitney, Thom und Mather haben früh erkannt, dass es vorteilhaft ist, die Punkte des Raums in äquisinguläre Strata zu organisieren. Nun versagt zwar Poincaré-Dualität in der Präsenz singulärer Punkte, dies kann aber durch den Wechsel zu anderen Kohomologietheorien repariert werden. Zur Zeit existieren drei Theorien, die eine verallgemeinerte Form von Poincaré-Dualität aufweisen: die Schnittkohomologie, entdeckt von Goresky und MacPherson, die -Kohomologie für konische Metriken, entdeckt von Cheeger, und die Kohomologie von Schnitträumen, entdeckt von Banagl. Jede dieser Theorien hängt von einem Parameter ab; für eine selbstduale Wahl dieses Parameters sind die beiden erstgenannten Theorien isomorph, während die dritte im Allgemeinen ganz andere Bettizahlen besitzt. Die Konstruktion von Schnitträumen kann als eine homotopietheoretische Desingularisierung eines Raums aufgefasst werden.
Diese Theorien sind nicht invariant unter beliebigen Homotopieäquivalenzen, und es liegt nahe, eine stratifizierte Homotopietheorie in Betracht zu ziehen und weiterzuentwickeln. Beispielsweise führte die Arbeit von Banagl, Mäder, Sadlo und Waas in topological Data Science innerhalb des Exzellenzclusters STRUCTURES zu der Entdeckung konkreter elementarer simplizialer Kollaps- und Erweiterungsoperationen, die die Existenz einer stratifizierten einfachen Homotopietheorie im Sinne J. H. C. Whiteheads implizieren. Verdier-selbstduale Garbenkomplexe mit geeigneten Verschwindungsbedingungen an Halme und Kohalme erweisen sich häufig als geeignetes Mittel, Dualitätsfragen auf singulären Räumen zu untersuchen. Sind Strata ungerader Kodimension vorhanden, dann bestehen Obstruktionen gegen die Existenz solcher Komplexe; wenn sie existieren, so definieren sie Kohomologietheorien mit Dualität, die in enger Beziehung zur Schnittkohomologie stehen. Im Falle der reduktiven Borel-Serre-Kompaktifizierung von Hilbertschen Modulflächen etwa konnte man zeigen, dass die Obstruktionen verschwinden. Ist nun Dualität wiederhergestellt, dann können viele der oben angesprochenen Invarianten von Mannigfaltigkeiten auf singuläre Räume verallgemeinert werden. Ihre Berechnung hingegen birgt viele interessante Herausforderungen, da der für Mannigfaltigkeiten zum Zuge kommende funktorielle Bündelkalkül im singulären Fall nicht zur Verfügung steht.
Nichtsdestotrotz stellt sich heraus, dass wichtige L-theoretische Objekte nach wie vor konstruiert werden können: Ein Durchbruch in jüngerer Zeit wurde von Banagl, Laures (Bochum) und McClure (Purdue) durch die Konstruktion einer Orientierungsklasse im Sinne Dolds mittels Adentheorien in der symmetrischen L-Homologie von singulären Räumen erzielt. Dies impliziert unter anderem die Existenz von Invarianten wie höheren und symmetrischen Signaturen für singuläre Räume. Ähnliche Klassen in der K-Homologie singulärer Räume können mittels topologischer oder reell-analytischer Methoden konstruiert werden. Das Hodge-Theorem von Banagl-Hunsicker ermöglicht eine topologische Interpretation von -Kohomologieräumen bezüglich Scattering-Metriken durch die Kohomologie von Schnitträumen. Für komplexe algebraische Varietäten bestehen zahlreiche Berührungspunkte zu Saitos Theorie der gemischten Hodge-Moduln, die für singuläre Varietäten entwickelt wurde. Wir stehen erst am Beginn eines tieferen Verständnisses der Zusammenhänge zwischen obigen topologischen Invarianten zu jenen, die (gemischten) Hodge-Moduln wie dem Schnitt-Hodge-Modul zugeordnet sind.
Mathematische Physik
Physikalische Dualitäten implizieren oft mathematische Dualitäten. Eine Instanz dieses Prinzips ist das Phänomen der Mirror-Symmetrie, das in der theoretischen Physik beobachtet wurde und zu konkreten Voraussagen über die Anzahl rationaler Kurven auf Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten geführt hat. Viele dieser Voraussagen haben sich nach rein mathematischer Verifizierung als korrekt erwiesen. Conifold-Übergänge verbinden zwei topologisch unterschiedliche Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten, wobei das Conifold selbst ein singulärer Raum ist. Sitzen zwei Conifolds in gespiegelten Übergängen, dann wird Goresky-MacPhersons Schnittkohomologie gespiegelt zu Banagls Kohomologie von Schnitträumen.
Forschungsgruppenleiter
Haben Sie Interesse an den obigen Forschungsschwerpunkten in Topologie und Geometrie gefunden, dann laden wir Sie ein, an den einführenden Vorlesungszykeln zu algebraischer Topologie, Differentialtopologie, Differentialgeometrie oder mathematischer Physik teilzunehmen. Das dort erworbene Wissen kann dann durch die Teilnahme an Seminaren und Spezialvorlesungen vertieft werden. Die Möglichkeit zur aktiven, begleiteten Forschungstätigkeit wird im Rahmen unseres Master- und Promotionsprogramms geboten. Bewerbungen richten Sie gerne an folgende Forschungsgruppenleiter: